Ich bleib’ dann mal da
Krisen aushalten, Verantwortung übernehmen, schwere Entscheidungen treffen – wenn das Leben ungemütlich wird, nehmen wir oft am liebsten Reißaus. Doch wenn wir uns dem Leben stellen, können selbst die größten Herausforderungen zur Chance werden. (von Roswitha Wurm)
Fünf junge Missionarsfrauen und ihre kleinen Kinder verloren in den 50er-Jahren ihre Ehemänner und Väter im Amazonas-Dschungel in Ecuador. Diese hatten versucht, Kontakt zu einem als gefährlich bekannten Stamm aufzunehmen. Eine der jungen Mütter, Elisabeth Elliot, arbeitete nach dem schrecklichen Ereignis weiter als Missionarin und Bibelübersetzerin unter dem Stamm der Aucas, der für den Tod ihres Mannes Jim verantwortlich war. Die Witwe wurde immer wieder gefragt: »Wie hast du es nur geschafft, an diesen schlimmen Ort zurückzukehren, der dein Leben und deine Pläne so sehr verändert hat?« Elisabeth Elliot antwortete stets: »Ich bin nicht zurückgegangen, ich blieb einfach dort.«
Einfach dableiben – das scheint manchmal das Geheimnis zu sein, um das Leben zu meistern, wenn es hart auf hart kommt. Einfach dableiben – das klingt simpel, ist aber wahrscheinlich eine der größten Herausforderungen überhaupt. Wie gerne laufen wir weg, wenn wir Entscheidungen treffen oder Verantwortung übernehmen müssen, wenn nichts mehr zu funktionieren scheint, wenn uns plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Abwechslung, Ablenkung, Neubeginn scheinen naheliegende Antworten zu sein. Besonders in einer Zeit, in der uns für alles eine simple Lösung angeboten wird – und zwar meist nur einen Mausklick entfernt.
Die rasante technische Entwicklung der letzten 25 Jahre und der wirtschaftliche Fort schritt haben vieles verändert. Wir leben in einem Teil der Welt, in dem vom Lebensbeginn an alles machbar und möglich erscheint: in einem Schlaraffenland, das offensichtlich grenzenlose Freiheit, und die Erfüllung all unserer Wünsche bietet.
Grenzenlose Möglichkeiten
Neulich im Supermarkt: Eine adrett gekleidete junge Frau schiebt ihr Kleinkind mit dem Einkaufswagen an den Regalen vorbei. Bei den Säften bleibt sie stehen. »Leon, möchtest du Apfelsaft oder Orangenlimonade?« Der kleine Junge blickt sie mit kugelrunden Augen fragend an. »Also lieber etwas anders, Schatz?« Sie greift nach einem Päckchen Ananassaft. »Magst du den?« Der Kleine schüttelt den Kopf, gleich darauf nickt er. Leons Mama wird unsicher: »Du musst schon sagen was du willst.« »Das da«, ruft Leon und deutet auf eine gelbe Packung. »Grapefruitsaft? Bist du dir sicher?« Leon nickt strahlend und hält das Päckchen ganz fest in seinen Ärmchen. Leons Mama greift zum iPhone, macht ein Foto von ihrem Jungen und postet auf Facebook: »Mein süßer Sohn liebt bittere Grapefruit«.
Kurze Zeit später möchte Leon trinken, sie öffnet ihm die Packung und nach dem ersten Schluck spuckt der Junge den Saft schreiend aus.
Leons gibt es leider viel zu viele. Denn von Kindesbeinen an wird uns heutzutage eine Fülle an Wahlmöglichkeiten angeboten, die uns schier überfordert. Wir sollen doch die Freiheit genießen, von der frühere Generationen nicht Mal zu träumen wagten. Alles ist möglich, alles erlaubt, aber nichts muss sein. Diese Freiheit ist gut und ermöglicht uns vieles. Aber sie hat auch Grenzen. Und nach denen ruft eine ganze Generation.
Generation Maybe
»Ich bin ein Maybe.1 Meine Freunde sind Maybes. Ich wäre zwar gerne keiner, aber es ist nun mal so. Ich tue mich schwer, Entscheidungen zu treffen. Mich festzulegen. Mich einer Sache intensiv zu widmen. Ich habe kein ADHS. Und dennoch bin ich entscheidungsschwach. Ich sehe all die Optionen vor mir, die Verlockungen einer ultramodernen Welt, in der alles möglich ist.« So bringt es der Journalist Oliver Jeges auf den Punkt.2
Die Generation der 15- bis 30-Jährigen ist heute überzeugt davon, dass sie die Freiheit hat zu wählen, ob sie einen schwierigen Weg geht oder nicht. Und so ist es auch. Die Frage ist nur, ob uns die vielen Wahlmöglichkeiten wirklich frei machen? Wir können vor Schwierigkeiten davonlaufen. Jeder findet das in Ordnung und hat Verständnis dafür. Schließlich muss jeder »auf seine Art glücklich werden«. Wir können Beziehungen, die uns nerven oder zu schwierig sind, einfach beenden – wenn es uns zu schwer fällt, dem anderen dabei in die Augen zu schauen, sogar einfach per Whatsapp oder SMS. »Bis dass der Tod uns scheidet« ist einem »bis ich keine Lust mehr habe« oder einem »bis ich etwas Besseres für mich gefunden habe« gewichen. Treue und Durchhaltevermögen sind nicht mehr die gefragtesten Charaktereigenschaften. Flexibilität und Bereitschaft, etwas Neues zu wagen, sind die Schlagwörter von heute.
So weit, so gut. Wäre da nicht trotz aller Freiheit diese innere Leere und Orientierungslosigkeit, die eine ganze Generation zu befallen scheint:
»Wir sind die Generation, die nichts mit sich anzufangen weiß und sich permanent fragt: Leben – wie geht das? Wir wollen tun, worauf wir Lust haben, wollen nur Erlebnis, aber nie Alltag. Ist das vielleicht die Lebenslüge unserer Generation? Uns alle eint die Sorge, nicht dahin zu gelangen, wo wir uns in unseren Vorstellungen sehen. Die Sorge, dass wir vielleicht die falschen Entscheidungen treffen. Wir wollen unsere Träume wahr werden lassen, haben aber nie gelernt, was zu tun ist, wenn das nicht klappen sollte,«3 schreibt Oliver Jeges.
Einfach dableiben
Was, wenn das Leben anders läuft, als wir uns das gewünscht haben? Der ersehnte Traumpartner taucht niemals an unserem Lebenshorizont auf. Die Aufnahmeprüfung für das geplante Studium oder die Wunschausbildung klappt auch beim dritten Anlauf nicht. Der finanzielle Wohlstand tritt nicht ein, oder – schlimmer noch – man wird lang zeitarbeitslos. Eine schwere Krankheit oder ein Unfall machen einen hässlichen Schnitt in das bisher sorglose Leben. Ein unerwarteter Todesfall zerstört unser Glück.
Elisabeth Elliot schrieb über die Zeit, in der sie entschieden hatte, nach ihrem Schicksalsschlag zu bleiben und die Arbeit ihres Mannes in Ecuador fortzusetzen: »Ich wusste, wenn mein Leben weitergehen soll, dann muss es einen Sinn haben … Die Warums, die mich Tag und Nacht anschrien, waren nicht zum Schweigen zu bringen; aber ich konnte mit ihnen leben, wenn ich einfach weitermachte und das Nächst liegende tat. Jim und ich hatten unter den Quinchia-Indianern in Shandia gearbeitet. Ich kehrte dorthin zurück und tat, was mir als tägliche Pflicht vor die Hände kam. Und indem ich das tat, lernte ich Gott ein wenig besser kennen. Gehorchen heißt erkennen. Das zu wissen bedeutet Frieden. Ich wusste nicht, was mir die Zukunft bringen würde, aber es hatte keinen Zweck, sich mit den Sorgen des nächsten Tages zu belasten.«4
In den Worten Elliots erkennt man ihr Ringen um den richtigen Umgang mit ihrer Situation. Tief in ihrem Herzen wäre sie wohl lieber mit ihrer kleinen Tochter nach Hause, in die USA, zurückgekehrt. Andererseits wusste sie, dass sie mit dieser schrecklichen Tragödie nur weiterleben konnte, wenn sie sich dem Leben stellen würde.
Schwierigkeiten als Chance
In den 1950er-Jahren wusste Elisabeth Elliot wohl noch nichts von dem neu geprägten Begriff der »Resilienz«, der Fähigkeit, Schicksalsschläge und Lebenskrisen ohne langfristige Beeinträchtigung zu meistern. Aber sie zeigte in eindrücklicher Weise, was es heißt, resilient zu sein.
Der Begriff der Resilienz kommt ursprünglich aus der Physik und bezeichnet hochelastische Werkstoffe, die nach der Verformung durch äußere Einwirkungen wieder ihre ursprüngliche Form annehmen. Im übertragenen Sinn bedeutet das, nach Schicksalsschlägen oder problemreichen Zeiten wieder eine Lebensstrategie zu entwickeln, die ein Weiterleben möglich macht.
Menschen, die Extremsituationen bewältigen konnten, sind sich einig: »Rück -blickend betrachtet, war der ›worst case‹ in meinem Leben die größte Chance. Ohne dieses schlimme Ereignis wäre ich heute nicht derjenige, der ich bin.«
Thi-Ngoc Mucherl-Dang, eine junge Frau, flüchtete vor 25 Jahren als drei Monate alter Säugling mit ihren Eltern und sechs Geschwistern mit einem selbstgebauten Boot von Vietnam nach Europa. Eine kleine österreichische Gemeinde nahm die Familie auf und bot ihnen Arbeit und Wohnung. Heute sind alle Kinder erwachsen und haben eine abgeschlossene Berufsausbildung. Einige haben sogar studiert, so auch Thi-Ngoc Mucherl-Dang. Die heute in der Medienbranche tätige Frau ist froh, in Österreich gelandet zu sein. Nicht für alle Boatpeople ist die Situation so gut ausgegangen. Aber im Rahmen einer Studie zeigte sich, dass die Kinder vietnamesischer Boatpeople in den USA trotz schwieriger Lebensumstände bei allen Leistungstests besser abschnitten als Kinder der Mittelschicht. Das Zauberwort scheint auch in diesem Fall Resilienz zu sein. Die Frage ist nur, wie erlangt man diese Eigenschaft?
Resilienzfähig werden
Jeder Schicksalsschlag und jedes Problem stellen uns vor eine Weggabelung. Entweder verschließen wir die Augen vor der Wirklichkeit oder wir stellen uns der neuen Situation.
Seine Lebensumstände anzunehmen, ist der erste und wohl der schwierigste Schritt, um resilient zu werden. Denn es ist eine mentale Angelegenheit, eine bewusste Entscheidung, sich seiner Situation zu stellen. Ist das einmal geschafft, beginnt die eigentliche Arbeit. Die Suche nach einer Lebensstrategie. Meist ergibt sich diese aus dem Entschluss, dazubleiben und weiterzumachen.
Wieder auf die Beine zu kommen gelingt am besten, wenn man in Bewegung bleibt. Jeder, der bereits einen nahen Ange hörigen verloren hat, weiß, dass das Verrichten der alltäglichen Routinearbeiten die beste Trauerbewältigung ist.
Wenn man resilienzfähig werden möchte, sollte man aktiv und zukunftsorientiert leben und sich nicht von anderen leben lassen. Dennoch sollte man sich nicht davor scheuen, Hilfe anderer anzunehmen, wenn man sie benötigt. Gemeinschaft mit anderen macht stark und ist gerade in Zeiten der Not eine wichtige Überlebenshilfe.
Elisabeth Elliot hat diese Phasen zur Überwindung ihrer Trauer und Not durchlebt. Ihre Kraft zog sie aus ihrem Vertrauen in einen Gott, der sie durch alle Lebenslagen führte und trug. Jahre später schrieb sie über diese Zeit: »Ich tauschte Sichtbares gegen Unsichtbares. Ich kann nicht behaupten, dass ich von einem auf den anderen Tag glücklich geworden wäre. Ich musste mich täglich neu entscheiden zu leben und zu vertrauen … Nichts ist praktischer und realistischer als Gottes Wort … Gott weiß, wann wir uns hinsetzen und wann wir aufstehen. Er versteht unsere Gedanken, ehe sie zu uns kommen. Er verfolgt alle unsere Wege, umgibt uns von allen Seiten … Er weiß, was es heißt, im Hier und Jetzt zu leben … Er zeigt uns den Weg durch das Leid. Er weiß, wie er uns trösten kann. Die neue Ebene, das neue Leben, ist bestimmt, hier und jetzt gelebt zu werden, mit seiner Hilfe.«5
Menschen wie Elisabeth Elliot zeigen uns: Dableiben, wieder aufstehen und sich dem Leben stellen fällt leichter, wenn man einen sicheren Halt hat. Etwas, an dem man sich orientieren kann, wenn das Leben einem den Boden unter den Füßen wegzieht. Einen Fixpunkt, der niemals wankt und immer bleibt. Und genau das bietet Gott uns an. Die Bibel sagt: »Ja so ist unser Gott, er bleibt unser Gott für immer und ewig. Er wird uns führen bis zum Tod.«6 Gott will jedem Menschen Kraft und Mut geben, sein Leben zu bewältigen. Und er verlangt dafür keine Gegenleistung. Wenn wir unser Leben in seine Hände legen, dürfen wir all unsere Sorgen und Nöte beim Schöpfer des Universums abgeben. Im Vertrauen auf ihn können wir uns getrost dem Leben mit all seinen Herausforderungen und Widrigkeiten stellen.
Ein Ziel vor Augen
Elisabeth Elliots zweite große Stärke war wohl ihr Wille, die Aufgabe, die sie und ihr Mann Jim hatten, weiterzuführen. Ihr gemeinsames Lebensziel war es, Menschen, die noch nie in ihrem Leben von Gottes befreiender Botschaft gehört hatten, von Jesus und seinem Erlösungsplan zu erzählen.
Abraham Lincoln, der sich als Präsident der Vereinigten Staaten zum Ziel gesetzt hatte, gegen den Sklavenhandel vorzugehen, meinte: »Wer im Leben ein Ziel vor Augen hat, verläuft sich nicht!« Diese Fähigkeit scheint der Generation Maybe abhandengekommen zu sein. Wer sich nicht entscheiden möchte oder kann, hat auch kein Ziel vor Augen. Den Blick fest auf ein Ziel gerichtet fällt es leichter, sich den täglichen Anforderungen zu stellen und Verantwortung zu übernehmen. Sei es für die Familie, eine Gemeinschaft oder eine andere Aufgabe. Das gibt dem Leben Sinn und macht es die Mühe wert, weiterzukämpfen.
Jesus hat das vorgelebt. Er verließ die Gemeinschaft bei seinem Vater im Himmel und kam auf die Erde, um unter Menschen zu leben und von seinem Vater im Himmel zu erzählen. Sein eigentliches Ziel war aber, am Kreuz für die Sünde jedes einzelnen zu sterben. Durch seine Auferstehung besiegte er den Tod, damit jeder, der an ihn glaubt, ewiges Leben hat. Jesus’ Lebensweg war stets auf dieses Ziel gerichtet, er war unterwegs nach Jerusalem, nach Golgatha, um dort als Gerechter für Ungerechte zu sterben.
Ein klares Ziel vor Augen hilft uns, trotz Schwierigkeiten nicht aufzugeben oder wegzurennen. Niemand hat das so konsequent umgesetzt wie Jesus. Wer ihm nachfolgt, kann immer wieder aus seinem Vorbild Kraft ziehen: »[Jesus] hat das Kreuz ausgehalten und der Schande keine Beachtung geschenkt. Denn auf ihn wartete die große Freude, an der rechten Seite von Gottes Thron zu sitzen. Denkt doch nur daran, wie geduldig er die Anfeindungen von schuldbeladenen Menschen ertragen hat. Dann werdet ihr nicht müde werden und nicht den Mut verlieren.«7
Und Mut braucht es wirklich, um sich dem Leben zu stellen.
Zuerst erscheinen in: Entscheidung 4/2015. www.entscheidung.org
ÜBER DIE AUTORIN
Roswitha Wurm ist Pädagogin und Autorin, sie lebt mit ihrer Familie in Wien.
1 Maybe, engl.: vielleicht, eventuell
2 Oliver Jeges, Generation Maybe – Die Signatur einer Epoche, Haffmans Tolkemitt 2014
3 Ebd.
4 Elisabeth Elliot, Die Mörder – meine Freunde, CLV 1999.
5 Elisabeth Elliot, Wege durch das Leid – Führung in schweren Zeiten, Hänssler 2003
6 Psalm 48,15; 7 Hebräer 12,2-3
Ihr Feedback ist uns wichtig
Was halten Sie von diesem Blogartikel? Hinterlassen Sie uns einen Kommentar!